Eine Sozialpionierin wird neue Selige
Mit Hildegard Burjan bekommt die Kirche von Österreich eine neue Selige. Die Sozialpionierin und Gründerin der religiösen Schwesterngemeinschaft CARITAS SOCIALIS hat wesentliche Forderungen der 1891 erschienen ersten Sozialenzyklika der Kirche RERUM NOVARUM in ihrer sozialpolitischen Arbeit aufgegriffen.
Ingeborg Schödl, Publizistin und Biographin von Hildegard Burjan
Im linken Querschiff der Wiener Votivkirche erinnert ein 1964 vom Land Niederösterreich gestiftetes Glasfenster an die Vertreter der katholischen Soziallehre in Österreich. Neben Papst Leo XIII., dem Verfasser von RERUM NOVARUM (RN), sind darauf u.a. zu sehen der große Sozialreformer Carl Freiherr von Vogelsang, der Arbeiter-Seelsorger und Gründer der Kalasantiner, der selige Anton Maria Schwartz, der christliche Arbeiterführer Leopold Kunschak und Prälat Ignaz Seipel, der Führer der Christlichsozialen Partei in der 1. Republik. Links am Rande ist auch eine Frauengestalt auszunehmen. In der männlich dominierten Runde hat Hildegard Burjan als bedeutende Sozialpionierin zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Platz bekommen.
Neuer Ansatzpunkt in der Sozialarbeit
Als sozial engagierte Frau war sie eine der ersten, die Konzepte entwarf um die Aussage von RERUM NOVARUM (RN) sowohl auf politischer wie auch auf sozialer Ebene zu realisieren. Sie ging dabei von einem für die damalige Zeit vollkommen neuen Ansatzpunkt aus: Mit Geld oder Kleinigkeiten ist einem Menschen nicht geholfen, man muss ihn von vornherein wieder auf die Füße stellen und ihm auch die volle Überzeugung geben: Ich bin jemand und ich kann etwas leisten. Eine heutige Formulierung nennt dies „Hilfe zur Selbsthilfe“.
Sie konzentrierte sich bei ihrer Arbeit auf drei wesentliche Punkte von RN: Eine gerechte Lohnpolitik (RN 17: Dem Arbeiter den ihm gebührenden Verdienst vorzuenthalten, ist eine Sünde, die zum Himmel schreit...), die Gründung christlicher Arbeitervereine (RN 36: Hierher gehören Vereine zur gegenseitigen Unterstützung...und Hilfeleistung für den Arbeiter und seine Familie ...) und Schutz der Lohnabhängigen vor Ausbeutung durch gesetzliche Regelungen (RN 27: ...und so muss der Staat durch öffentliche Maßnahmen sich in gebührender Weise des Schutzes der Arbeiter annehmen...).
Ganz besonders setzte sich Hildegard Burjan für die Rechte der Frauen ein. Eine ihrer wichtigsten und auch heute noch aktuellen Forderungen war: Gleicher Lohn für gleiche Leistung. Bereits 1912 gelang es ihr durch die Gründung des „Vereins der christlichen Heimarbeiterinnen“ eine rechtliche Absicherung für diesen Berufsstand durch die Festsetzung von Mindestlöhnen zu erreichen. Sie bot außerdem den Mitgliedern einen Wöchnerinnenschutz, Unterstützung im Krankheits- und Sterbefalle sowie einen unentgeltlichen Rechtsschutz an.
Für gerechte Strukturen in die Politik
Ein großes Anliegen war Hildegard Burjan auch das mit der Heimarbeiterinnenfrage eng verbundene Problem der Kinderarbeit. Ganze Industriezweige, vor allem die Textil- und Spielzeugindustrie, bedienten sich trotz der bestehenden Kinderschutzgesetze, deren Einhaltung nicht kontrolliert wurde, dieser billigen Arbeitskräfte. In einem Vortrag am „2. Österreichischen katholischen Frauentag 1914“ stellte Hildegard Burjan fest, dass man diesem „schreienden Problem“ nicht durch die rigorose Kontrolle der Kinderschutzgesetze allein beikommen könne, sonder vor allem durch eine gerechte Entlohnung der Familienerhalter. Infolge der bitteren Not wären diese oft gezwungen ihre Kinder zu dieser frühen Erwerbstätigkeit anzuhalten (RN 10: Ein dringendes Gesetz der Natur verlangt, dass der Familienvater den Kindern den Lebensunterhalt und alles Nötige verschaffe...).
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde Hildegard Burjan von der Christlichsozialen Partei das Angebot gemacht, in die Politik einzusteigen. Sie nahm an, weil sie wusste, dass ungerechte Strukturen nur auf der politischen Ebene verändert werden können. Ihre Überzeugung war aber auch ...volles Interesse für die Politik gehört zum praktischen Christentum. Erste Station war 1918 der Wiener Gemeinderat, doch bereits 1919 wurde sie als erste und damals einzige christlichsoziale Abgeordnete im Parlament der 1. Republik angelobt. Auch dort setzte sie sich vor allem für die Rechte der Frauen und deren Chancen auf Bildung und Gleichberechtigung ein. Das 1. Hausgehilfinnengesetz, mit dem erstmals die Rechte für einen vollkommen rechtlosen Berufsstand geregelt wurden, trägt ihre Handschrift. In einem politisch aufgeheizten Klima wagte sie für dessen Durchsetzung den Schulterschluss mit den weiblichen Abgeordneten der Sozialdemokratie.
Verwirklichung eines Lebenszieles
Ihr Verbleib in der Politik war nur kurz. Sie wollte ihre ganze Kraft der Verwirklichung ihres Lebenszieles einsetzen – der Gründung einer religiösen Schwesterngemeinschaft, die sich, nicht gebunden durch Klausur und sonstige zeitlich gebundene Regeln, in die Not der Zeit begeben kann. Im Oktober 1919 wurde von ihr die religiöse Schwesterngemeinschaft CARITAS SOCIALIS gegründet, deren erste Vorsteherin Hildegard Burjan als verheiratete Frau und Mutter wurde. Zahlreiche von ihr initiierte Projekte gehören heute noch unter meist anderem Titel zum sozialen Angebot von Gemeinden und karitativen Organisationen. Hildegard Burjan war es auch, die trotz kirchlicher Widerstände das erste Mutter-Kind-Heim für ledige Frauen in Wien errichtete und ihnen dadurch die Möglichkeit für einen Neustart bot.
Die konvertierte Jüdin Hildegard Burjan schöpfte die Kraft für ihren sozialen Einsatz aus einem tiefen Glauben. Der Grundsatz ihrer sozialpolitischen Arbeit war: Christliche Nächstenliebe und soziale Arbeit müssen zusammenwirken...all unser Handeln und Tun für die Unterdrückten ist nur dann segensreich, wenn es basiert auf den Grundwahrheiten unserer Religion (RN 22: Indessen die Kirche lässt es sich nicht dabei begnügen, bloß den Weg zur Heilung zu zeigen...Ihr ganzes Arbeiten geht dahin, die Menschheit nach Maßgabe ihrer Lehre und ihres Geistes umzubilden...). Ihr ganzes Leben widmete sie allein dem Ziel: Das Evangelium durch die soziale Tat zu verkünden.
Weiterführende Literatur:
Ingeborg Schödl: Hildegard Burjan, Frau zwischen Politik und Kirche, Domverlag 2008.
Gisbert Greshake: Selig die nach der Gerechtigkeit dürsten, Hildegard Burjan Leben.Werk.Spiritualität, Tyrolia Verlag 2008.
Hildegard Burjan wurde am 30. Jänner 1883 als zweite Tochter der liberalen-jüdischen Kaufmannsfamilie Freund in Görlitz a.d. Neisse geboren. Sie und ihre Schwester, Alice, wuchsen ohne religiöse Erziehung auf, erhielten aber eine für Mädchen damals noch unübliche gediegene Ausbildung. Hildegard studierte an der Universität Zürich Germanistik und dort lernte sie auch ihren späteren Mann Alexander Burjan kennen, der ebenfalls jüdischer Abstammung war. Das Paar heiratete 1907 und übersiedelte nach Berlin. Ein Jahr nach der Hochzeit wurde Hildegard Burjan mit einer Nierenkolik in das Krankenhaus eingeliefert. Nach mehreren Operationen wurde sie von den Ärzt*innen aufgeben. Am Ostersonntag des Jahres 1909 trat eine nicht erklärbare Besserung ihres Zustandes ein. Dies war auch der Anlass, dass sie im August 1909 zum katholischen Glauben übertrat und sich taufen ließ. Aus beruflichen Gründen des Gatten übersiedelte das Paar nach Wien. Im August 1910 gebar sie unter Lebensgefahr ihr einziges Kind – Tochter Lisa. Hildegard Burjan schloss sich katholischen Kreisen an, die sich intensiv der sozialen Arbeit widmeten. Sie wurde eine der führenden Sozialpionierinnen des 20. Jahrhunderts. Sie starb an den Folgen ihrer seinerzeitigen Krankheit im Alter von 50 Jahren am 11. Juni 1933 in Wien.
Die Seligsprechung, für die das Motto „Mit Spannungen leben“ gewählt wurde, findet am 29. Jänner 2012 im Wiener Stephansdom statt.