Die Spiritualität Hildegard Burjans
Gisbert Greshake, Professor für Dogmatik in Freiburg/Wien/Rom
Verantwortung für die Welt übernehmen
Aus dem Beginn der sozialpolitischen Tätigkeit Burjans in Wien ist ein Wort von ihr überliefert, wonach sie all das tut, weil sie sich jeden Augenblick irgendwie für das viele Traurige verantwortlich fühlt, das auf der Welt geschieht. Diese Aussage sowie die daraus folgende Praxis, nämlich die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse auf größere Gerechtigkeit und Menschwürde hin strukturell zu verändern, war im Raum der Kirche etwas ganz Neues. Denn bis zur Enzyklika Rerum Novarum Leos XIII. (1891) und noch sehr lange danach verwirklichte sich das soziale Engagement der Christen vorwiegend in individueller karitativer Hilfeleistung, in Wohltätigkeit und Almosengeben. Demgegenüber eröffnet Burjans Gedanke einer solidarischen Verantwortung für die ganze Welt eine neue Perspektive, die wohl in ihrer jüdischen Herkunft gründet. Denn trotz ihres nicht religiösen Elternhauses war im damaligen gebildeten Judentum die (säkularisierte) messianische Idee der Welterneuerung und Verbesserung äußerst lebendig. Und Hildegard Burjans Hinkehr zum christlichen Glauben legte diese Einstellung keineswegs ab. Damit gehört sie zu den Wegbereitern einer Spiritualität, welche unter stärkerer Berücksichtigung der jüdischen Wurzeln des Christentums ganz weltzugewandt ist und die Erde liebt, weil die ganze Schöpfung unter der Verheißung messianischen Heils steht.
Die Liebe Christi weitergeben
Seitdem Hildegard Burjan zum christlichen Glauben gefunden hat, erhält die Idee der Weltverantwortung freilich eine neue Gestalt: Es geht ihr jetzt nicht mehr nur darum, die Welt gerechter und menschenwürdiger zu machen, sondern im sozialpolitischen Engagement auch die Liebe Christi aufleuchten zu lassen und weiterzugeben. Beides bildet hinfort eine unzertrennliche Einheit: Christliche Nächstenliebe und soziale Arbeit müssen zusammenwirken; volles Interesse für die Politik gehört zum praktischen Christentum. Dafür steht auch der Name, den sie ihrer wichtigsten Gründung gab: Caritas Socialis. Das bedeutet: die Liebe Christi soll und muss im gesellschaftlich-politischen Raum gelebt und wirksam werden. Es gilt, aus abgeschlossenen [geistlichen] Übungen herauszutreten und die soziale Arbeit zu einem Gebet zu machen.
So ist die Spiritualität Hildegard Burjans wesentlich eine Spiritualität der Weltverantwortung und Weltgestaltung im Geiste Christi.
Spannungen durchleiden
Indem Hildegard Burjan nicht in einem religiösen Binnenraum verbleibt, sondern sich ganz in die hochkomplexe und differenzierte Welt hineinstellt, erfährt sie am eigenen Leib auch tiefgehende, geradezu unerträgliche Spannungen, so etwa die Spannung zwischen dem Wunsch, ganz nach dem Evangelium zu leben, einerseits und den Verpflichtungen, die sie als Frau und Mutter im großbürgerlichen Milieu zu erfüllen hatte, andererseits. Da ist weiter die Spannung, mit voller Hingabe Anwältin der Armen, Unterdrückten und Entrechteten zu sein, und als Dame der Gesellschaft ihren hier gesteckten Aufgaben nachzukommen. Und nicht zuletzt ist da die Spannung zwischen einer kindlichen kirchlichen Gläubigkeit und ihrem energisch-selbstbewussten Auftreten sowie höchst eigenständigen Denken, das sich in der gallertartigen Masse des österreichischen Katholizismus wie ein Fremdkörper ausnahm (H. Waach).
Hildegard Burjan hat solche Spannungen nicht verdrängt und sie nicht zugunsten eines Pols aufgelöst, sondern zusammengehalten im Glauben, dass Gott selbst es ist, der in der ganzen zerreißenden Pluralität unserer gegenwärtigen Welt die Einheit unseres Lebens garantiert, und in der Hoffnung, dass Gott zuletzt die Auflösung von dessen Ecken und Kanten, Spannungen und Widersprüchen herbeiführen wird. Man kann auch sagen: Hildegard Burjan hat die tiefgehenden Spannungen ihres Lebens durchlitten, genau so wie sie ständige körperliche Schmerzen und Augenblicke tiefster Gottesfinsternis angenommen und durchgetragen hat.
Beispiel einer typisch neuzeitlichen Spiritualität
Durch all das ist Hildegard Burjan zur beispielhaften Gestalt einer Christin geworden, die sich vorbehaltlos in die spannungsreichen Herausforderungen, wie sie gerade für die neuzeitliche Welt charakteristisch sind, hineinstellt. Sie verkörpert eine Spiritualität, die sich vom Glauben in die Welt gesandt weiß und sich ganz im Einsatz für diese Welt verzehrt.
Gisbert Greshake, Professor für Dogmatik in Freiburg/Wien/Rom