Caritas Socialis
Schwesterngemeinschaft
menschen. leben. stärken.

Spiritualität Hildegard Burjans in ihrer Bedeutung für die heutige Gesellschaft

Weihbischof DDr. Helmut Krätzl

10 Thesen zum Thema: Hildegard Burjan ins Heute übersetzen

(Auszugsweise aus einem Vortrag von Weihbischof Dr. Helmut Krätzl vor Schwestern und Mitarbeiter*innen der Caritas Socialis am 26. 3. 2003)

1. Der Weg zum Glauben in einer ungläubigen Umgebung

Hildegard Burjan hat von Kindheit an keinen Glauben erfahren, weder den jüdischen, noch den christlichen. "Ich habe von zu Hause gar keinen Glauben mitbekommen und immer alle beneidet, die katholische Eltern haben. Diese können diese Gnade gar nie genug schätzen; sie soll viel mehr dafür danken."

Hildegard war aber ein nüchtern analysierender junger Mensch und setzte sich verstandesmäßig mit der Wirklichkeit auseinander. Als Philosophin war sie auf der Suche nach den letzten Gründen. Aber der Gott der Philosophen genügte ihr nicht. Vielmehr führte sie dies zunächst zu einer pessimistischen Weltanschauung, die sie später spöttisch "Schopenhauerei" nannte.

Einer Sekretärin sagte sie einmal: "Ich kann jeden glaubenslosen Selbstmörder verstehen. Wozu sollte man sich mit diesem sinnlosen Alltag herumschlagen, wenn man nicht ans Jenseits glaubt? Ich bin sicher, dass auch ich mir das Leben nehmen würde, wenn ich nicht gläubig wäre. Nicht aus Not, aus Kummer, sondern einfach wegen seiner Sinnlosigkeit. Wahrscheinlich würde ich es tun, wenn ich gerade sehr glücklich bin."

Sie findet zum Glauben in einer Gottesbegegnung am Rand des Todes, in einer schweren lebensbedrohenden Erkrankung. Am 11. April 1909, einem Karsamstag im St. Hedwigspital in Berlin, wird sie von den Ärzten praktisch aufgegeben. Doch am nächsten Tag, am Ostermorgen, ist sie nach langer Zeit plötzlich fieberfrei und die Operationswunden beginnen zu heilen. Sie wird bereits am 26. April entlassen. Dieses Erlebnis prägt später ihr unzerstörbares Gottvertrauen. Am 11. August 1909 konvertiert Hildegard Burjan zum katholischen Glauben.

Zu all dem trug aber auch das Erlebnis eines zutiefst liebvollen, tätigen Glaubens der sie pflegenden frommen Ordensschwestern bei. Übrigens war sie schon als Kind einmal von Ordensfrauen tief beeindruckt , als sie diese im benachbarten Garten beim Beten beobachtete. Später bezeichnete sie dieses Erlebnis als ersten Schritt, religiöse Fragen zu stellen. "Gott, wenn du bist, zeig dich mir!"

Hildegard Burjans Weg zum Glauben war der Weg vom Verstand zum Herzen; die Absage jedes reinen Rationalismus in Sachen Religion; das Aufdecken einer neuen Erkenntnisquelle neben der Vernunft: das schauende Herz.

2. Soziale Frage nur im Geiste Christi lösbar

Obwohl sie in einer höheren Gesellschaftsschicht aufgewachsen ist, bedrängt sie ständig die soziale Frage. Ihretwegen geht sie in die Hinterhöfe der Arbeiterwohnungen, wo sie besonders das Elend der Arbeiterfrauen kennenlernt.

Ihrer Meinung nach kann nur jemand soziales Verständnis aufbringen, der den ganzen Menschen versteht, was er ist und auf welches Ziel er hingeht. Daher kann auf diese letzten und bedeutungsvollsten Fragen nur das Christentum Antwort geben. Die soziale Frage kann nur von Christus her gelöst werden. Hildegard Burjan engagiert sich nicht aus soziologischen Gründen, nicht bloß aus Mitleid, sondern in erster Linie aus religiösen Gründen auf dem sozialen Gebiet.

Später sagt sie über die CS: "Es gibt viele besser ausgebildete Fürsorgerinnen als wir es sind. Das kann also unsere Stärke nicht ausmachen, unsere Stärke ist die Christusverbundenheit, dass wir Christus zu den Menschen tragen." Sozialarbeit ist für sie also eine Verpflichtung aus dem Glauben.

Dass dieser Ansatz aber nicht zu einer Spiritualisierung eines so konkreten, politischen Anliegens führt, zeigt ihr politisches Engagement, aber auch die Gründung der CS. Bei Hildegard Burjan geht es immer um einen Glauben, der in Werken tätig wird.

3. Der Christ in der Politik

Hildegard Burjan geht den Weg in die Politik da ihrer Ansicht nach volles Interesse für Politik zum praktischen Christentum gehört. Bürgermeister Weiskirchner ersucht Hildegard Burjan im Jahre 1918 in den Wiener Gemeinderat zu gehen. 1919 ist sie dann die erste Frau, die als Abgeordnete der christlich-sozialen Partei in die Nationalversammlung der Ersten Republik einzieht. Ihre parlamentarische Tätigkeit ist nur kurz, vom 4. März 1919 bis 9. November 1920, aber überaus reich an Tätigkeiten und Anträgen. Seipel hat über sie gesagt: er habe keinen Mann mit ausgeprägterer politischer Begabung gesehen, wie diese Frau.

Aber wo sind die Grenzen besonders für einen christlichen Politiker? Hildegard Burjan scheidet bald aus der Nationalversammlung aus, weil sie der Klubzwang in schwere Gewissenskonflikte bringt. Sie ist aber der Überzeugung, dass sie mit der Gründung einer sozialen/religiösen Gemeinschaft auch politisch in die Gesellschaft hineinwirken kann.

4. Die Frau in Gesellschaft und Kirche

Burjans Frauenpolitik konzentriert sich nicht nur auf Forderungen oder erschöpft sich in Klagen, sondern ist auch durchaus selbstkritisch. Am Zerrbild der Frau sind, so ihre Ansicht, auch die Frauen oft selbst schuld. "Der Typus der unverstandenen Frau hat sich nicht entwickelt, weil die Männer diese Frauen in der Tat nicht mehr verstehen, sondern weil ihr eigener Unverstand sie nicht mehr erkennen lässt, welche Pflichten und Rechte ihnen die göttliche Vorsehung bestimmt hat."

Sie wird polemisch konkret und nennt Frauen, die sich nicht gesellschaftpolitisch engagieren sogar Parasitentypen. Früher hätte es ihrer Meinung nach solche nur in höheren Kreisen gegeben, sie sind aber jetzt auch bis tief ins Bürgertum vorgedrungen. "Diese Drohnen der Gesellschaft, die teilweise unfreiwillig und durch die Entwicklung bedingt, teilweise aber recht freiwillig sich ihren Pflichten im Haus entheben, wollen auch von einer anderen Arbeit nichts wissen."

Dem entgegen verlangt sie für die (jungen) Frauen ein Recht auf Bildung und Berufsarbeit. "Besonders den jungen Mädchen müsste die Pflicht der Arbeit wieder mehr zum Lebensprinzip und tief in ihre Seelen eingesenkt werden." Und stellt dezidiert fest "Die soziale Arbeit aber ist eine Pflicht der katholischen Frau."

Hildegard Burjan mahnt auch, dass die weibliche Eigenart für die Politik (auch die Kirche?) nicht verloren gehen darf: Wir Frauen bringen zu dieser Arbeit ein liebendes, mütterliches Frauenherz mit, das seine Liebe dem Schwächsten schenkt und die größten Opfer für seine kranken Kinder zu bringen verlangt. Wir bringen aber auch unseren gesunden Hausverstand mit, der die Dinge konkret und praktisch anpackt, der sich nicht an abstrakten Klügeleien verliert. Die Frauen sollen keine bloße Vermehrung der Abgeordneten sein, sondern in ihrer selbständigen Betätigung eine Ergänzung der Männer.

Die Kirche betreffend beklagt sie, dass Frauenarbeit bisher zu sehr auf Wohltätigkeit und Almosen ausgerichtet war. Diese müsse aber auch strukturverbessernden, situationsverändernden und weltgestaltenden Charakter haben.

5. Kindliche Frömmigkeit widerspricht nicht wahrer Eigenständigkeit

Trotz ihrer hohen Intellektualität mutet ihre Frömmigkeit vielfach kindlich an. So die Ausdrücke, wie lieber Heiland, Christkindlein, Kreuzlein. Oder wenn sie sich vom lieben Gott ein Brieflein wünscht, was sie in dieser oder jener Sache tun solle. Ihren Beichtvater nannte sie manchmal sogar Papi. Hildegard Waach fasst in ihrer Biographie zusammen: Der Kern ihrer Frömmigkeit war sehr einfach. Sie hätte ihn vielleicht mit den Worten ausdrücken können: Gott und ich. Er in mir und ich in ihm wie ein Kind in den Armen seines Vaters.

Frömmigkeitsformen sind immer zeitgebunden, aber auch aus der jeweiligen Biographie zu verstehen. In Spannung dazu steht bei Hildegard Burjan, was sie sonst in ihrem Leben war : selbstbewusst, eigenständig, intellektuell, mit nüchterner Sprache und rationalem Durchblick. Der Kirche gegenüber verbindet sie hohe Loyalität mit großer Eigenständigkeit. Vor allem geht es ihr um das eins sein mit der Kirche. "So sehr ich sonst für Freiheit in der Entwicklung bin, kann ich das nicht scharf genug betonen, dass wir stets Hilfstruppen der Kirche und direkt unter ihrer Führung uns betrachten müssen."

Gemeinsam mit der Kirche glauben heißt aber nicht, alles billigen. Hildegard Burjan redet sehr deutlich über Kritik und hält sie für notwendig. Sie unterscheidet aber sehr genau zwischen aufbauender und negativer bzw. unnützer Kritik. (Die beiden letzten sollen vermieden werden.)

6. Mit Spannung und Konflikten leben

Das Leben von Hildegard Burjan war voll von Spannungen. Greshake ortet in ihrer Biographie vor allem drei Bereiche:

1) Den Menschen Christus bringen oder Sozialarbeit.

2) Kindlichkeit oder Selbstbewusstsein.

3) Leben nach dem Evangelium oder Leben in der Welt.

Spannungen sind für die plurale Gesellschaft typisch. Es gab wohl keine Epoche der Kirchen- und Glaubensgeschichte, in der Christen ohne Spannungen, harmonisch und nach allen Seiten abgerundet leben konnten. Doch war dies in relativ einheitlichen Kulturen leichter. Es ist geradezu ein Kennzeichen unserer modernen Gesellschaft, dass jeder, ob Glaubender oder Nichtglaubender, in gegensätzlichen Dimensionen leben muss, gewissermaßen in unterschiedlichen Welten, die kaum in eine Einheit zu bringen sind. Spannungen sind zusammengehalten im Glauben, dass Gott die Lösung ist", schreibt Greshake.

Genau so hat sich Hildegard Burjan verhalten. Sie hat Spannungen nicht verdrängt, oder zugunsten eines Spannungspols aufgelöst, sondern hat sie durchgelebt und durchgelitten. Spannungen werden fruchtbar, wenn man sie nicht verdrängt, sondern aushält. Burjan weiß auch sehr wohl, was es heißt mit Konflikten zu leben. Hier entfaltet sie so etwas wie eine Kreuzestheologie, wenn sie meint: Für jeden Menschen ist das ganze Leben ein Kampf, und ob man es ihm anmerkt oder nicht: Jeder geht langsam den steinigen Kreuzweg entlang. - Und danken wir Gott, wenn er uns durch Opfer Gelegenheit gibt, damit es aufwärts gehe und sein Licht immer mehr unsere Fehler erkenne lässt." Und eine Mitschwester tröstet sie: "Es ist mir schmerzlich, dass Sie soviel Leid zu tragen haben, dass Ihr Beruf Ihnen schwer fällt und täglich von neuem Sie das Kreuz zu spüren bekommen. Die wahre Nachfolge des Heilands muss uns doch sehr viel kosten. Wie können wir das Kreuz tragen helfen, wenn es uns nicht schmerzlich drückt?"

7. Bemühen um Versöhnung

An vielen Stellen mahnt Hildegard Burjan zu Friedfertigkeit, zu Versöhnung und gibt dafür auch sehr konkrete Regeln an. Hildegard Burjan hatte für sich und ihre Schwestern Christus als Vorbild der Milde gewählt. Sie betet gerne: "Jesus an Demut und Milde so reich, mache mein Herz dem Deinigen gleich!"

Jesus ist unser Friede und unsere Versöhnung. Versöhnung muss aber stets bei sich selbst anfangen. Erst eigene Versöhnung befähigt zum Dienst der Versöhnung. Bei allem politischen Engagement plädiert sie für unparteiische Haltung. Und mit Seipel ist sie sogar der Meinung, dass man selbst auf Presseangriffe eher gelassen, nicht mit Klagen reagieren soll.

Versöhnlichkeit und Friedfertigkeit schließen andererseits nicht die Notwendigkeit und Pflicht aus, gelegentlich auch zu tadeln. Aber selbst wenn Tadel nötig ist, dann im versöhnlichen Ton. So schreibt sie einer Schwester: "Lesen Sie aus meinen Zeilen nicht den Tadel heraus, und kränken Sie sich nicht, sondern lesen Sie die Sorge und Liebe eines Menschen, der nur Ihr Allerbestes will, dem der liebe Gott Sie jetzt anvertraut hat und der sich für Sie verantwortlich fühlt."

Ein wichtiger Schwerpunkt ihrer Spiritualität für die Gemeinschaft ist die schwesterliche Gesinnung, schwesterliche Versöhntheit. "Es gibt nichts Beglückenderes, als ein in Gott begründetes Verstehen der Seelen."

8. Unerschöpfliche Geduld - schöpferische Geduld

Es lässt staunen, dass gerade eine so dynamische, selbstbewusste, vorwärtsdrängende Frau soviel von Geduld redet und ihr schöpferische Kraft zuspricht. Das Schriftwort "In eurer Geduld werdet ihr eure Seelen besitzen." (Lk 21, 19) scheint sie besonders inspiriert zu haben.

Ihre Geduld kommt zunächst aus einem christlichen Optimismus. "Ich bin immer für ein vertrauensvolles Vorwärts- und Aufwärtsschreiten es geht schon voran, wenn man es auch vor lauter Sorgen nicht immer merkt." Die Kraft dazu schöpft sie aus einer innigen Christusverbundenheit, die sie Anderen weitergeben möchte. "Mit ihm, durch ihn, für ihn, diese sechs Worte mögen Ihnen den ganzen Tag recht lebendig sein. Ich finde bei mir immer, dass sie allen Kummer, in aller Enttäuschung, die man bei Menschen hat, in aller Arbeitslast, genügen."

Geduld ist für Hildegard Burjan die Triebfeder des Unternehmens, aber auch eine Kraftquelle im geistlichen Leben. "Wachstum in der Stille" und "sich nicht zu viel auf einmal vom inneren Fortschritt erwarten. Lassen Sie auch Ihrer Seele Zeit!" Oder "Wir müssen vom göttlichen Herzen Geduld lernen, auch mit uns selbst."

Geduld mit den Schwächen der anderen: mit den Schwächen der Gemeinschaft, aber auch bei der Behandlung Gefährdeter.

Geduld gibt Raum für Neues.

9. Unheil - Leid - Kreuz

Hildegard Burjan hat das Kreuz in vielfacher Weise im Leben verspürt. Das hat so etwas wie Kreuzesfrömmigkeit in ihr wachsen lassen, aber auch eine starke Sensibilität für das Leid anderer. Nur wer selbst Kreuz erfahren hat, weiß um seinen Wert. Sie weiß sich oft von Krankheit und Leid behindert in ihrem Tatendrang.

Sie legt dies aber so aus, dass Gott es zum Besten wenden kann. Als sie wieder einmal mit Fieber daniederlag schreibt sie: "Es ist mir so schwer ums Herz, das fühlen Sie mit mir, aber ich denke, wenn der liebe Gott dieses beständige Kreuz mir bestimmt, so wird es sicher zum Besten sein." Auch Krankheit kann zum Segen sein. Ja sie meint sogar: "Sobald sich die Menschheit vom Kreuze entfernt, geht ihr auch die hohe symbolische Bedeutung des Lebens verloren."

Aber dennoch warnt sie davor, sich zusätzliche Opfer zu suchen. Zu ihrer Sekretärin meinte sie einmal, man müsse sich keine außerordentlichen Bußwerke suchen, denn die von Gott geschickten Leiden und Schwierigkeiten zu ertragen genüge schon. Also das Kreuz nicht suchen, es aber, wenn nötig, willig annehmen.

10. Vertrauensvolle Gottergebenheit

Durch das ganze Leben von Hildegard Burjan zieht sich ein grenzenloses Gottvertrauen, eine kindliche Gottergebenheit. Greshake vermutet dahinter doch ein jüdisches Erbe. Denn obwohl Frau Hildegard nie jüdisches Glaubensleben erlebte und praktiziert hat, wird sie doch mit Sicherheit spätestens in der Schule gehört haben, dass in der Mitte des alttestamentlichen Glaubens die Überzeugung steht, dass Gott sich um sein Volk sorgt und es durch die Geschichte mit seiner Führung begleitet.

Mehr als die jüdische ist aber die biographische Wurzel ausschlaggebend. Gott kann vor dem Tod bewahren, - diese Erfahrung hat sie damals in der Karwoche im Spital in Berlin gemacht. Die Gottergebenheit verdichtet sich dann bei ihr vor dem Sterben. Es erwacht die Sehnsucht nach der Begegnung mit ihm. "Licht, viel Licht brauche ich heute, ich darf ja heimgehen, heimgehen darf ich!"

"O wie schön ist es, dass ich heimgehen darf." Und in den letzten Stunden: "Ich kann mich gar nicht fassen vor Dankbarkeit gegen Gott. Er hat mir soviel Glück und Freude geschenkt."

Ihr allerletztes Wort war: "Gott schön."

Literatur:

Alfred Koblbauer: Hildegard Burjan, Charismatische Künderin sozialer Liebe, Eigenverlag Caritas Socialis 1976;

Hildegard Waach: Ein Pionier der Nächstenliebe, Verlag Herder 1958;

Gisbert Greshake: Spiritualität Heute, Die spirituelle Gestalt Hildegard Burjans, Eigenverlag Caritas Socialis 2003

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